Veranstaltung: | Landesparteitag S-H Mai 2024 |
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Tagesordnungspunkt: | 4. Anträge |
Antragsteller*in: | Marilla Meier (KV Lübeck) |
Status: | Überweisung (LaVo) |
Eingereicht: | 04.04.2024, 01:17 |
A18: Für eine echte Agrar- und Ernährungswende und gegen Symbolpolitik
Antragstext
Der Antrag „A10 Mehrwertsteuerbefreiung für Gemüse, Hülsenfrüchte & Obst“ wird
den gewünschten Effekt (Konsum von mehr Gemüse, Hülsenfrüchte & Obst) nicht
erzielen. Konsument:innen werden ihr Ernährungsverhalten aufgrund einer
Umsatzsteuersenkung nicht nachhaltig ändern. Eine Senkung der Umsatzsteuer ist
daher nicht das richtige Instrument, um die berechtigten Ziele einer stärker
pflanzenbasierten Ernährung zu erreichen. Folglich gibt es auch keine
Synergieeffekte für Gesundheit und Klimaschutz im großen Stil.
Für eine ambitionierte grüne Agrar- und Ernährungspolitik fehlen die
finanziellen Mittel. Der Antrag A10 würde den Bund im Falle einer eventuellen
Umsetzung 2 Mrd. EUR pro Jahr kosten (1) und erzeugt gemessen am Effekt hohe
Kosten. Diese Gelder werden in anderen Bereichen der Agrar- und
Ernährungspolitik dringend benötigt.
Die Delegierten des Landesparteitages mögen beschließen:
Der Landesparteitag lehnt den Antrag „A10 Mehrwertsteuerbefreiung für
Gemüse, Hülsenfrüchte & Obst“ ab.
Die Verantwortlichen in der Partei, in der Landesregierung und im Landtag
setzen sich für einen nachhaltigen Umbau des Ernährungssystems durch
Unterstützung und Werbung für eine ökologische sowie stärker
pflanzenbasierte Ernährung in der Außer-Haus-Verpflegung (u.a.
öffentlichen Kantinen und Mensen) in Schleswig-Holstein ein.
Begründung
Die vorgeschlagene Maßnahme ist das falsche Instrument für das berechtigte Ziel der Förderung einer stärker pflanzenbasierten Ernährung. Die Maßnahme
erhöht allerhöchstens geringfügig die Nachfrage nach Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten,
schadet kleinen Direktvermarktern,
erzeugt unverhältnismäßig hohe Kosten und
steht daher auch unseren agrar- und steuerpolitischen Reformprojekten im Weg.
1. Verbraucher reagieren nicht auf eine minimale Preisänderung
Die Forschung zeigt, dass Verbraucher nicht so stark (unelastisch) auf Preisänderungen im Lebensmittelbereich reagieren (2), weil Obst und Gemüse (im Gegensatz zu anderen Konsumgütern) weitgehend Güter des Grundbedarfs sind. Die Ernährungsgewohnheiten von Menschen ändern sich nur sehr langfristig und aufgrund von veränderten Lebensumständen und nicht durch eine einmalige, kaum merkbare Preissenkung zum Jahresanfang. Es ist weiterhin nicht klar, ob der Lebensmitteleinzelhandel die Steuersenkung langfristig in vollem Umfang an Verbraucher:innen weitergibt, hierzu gibt es gemischte Erkenntnisse. Es ist keine mengenmäßige Änderung des Obst- und Gemüsekonsums zu erwarten, da die vergleichsweise geringe Preisänderung kaum wahrgenommen wird.
2. Förderung von Importeuren
Geht man trotzdem von einer geringfügigen Wirkung auf die Nachfrage aus, bezieht sich diese vor allem im Winterhalbjahr zu einem großen Teil auf Importprodukte. Der Selbstversorgungsgrad bei Obst liegt 2022 bei 23% und bei Gemüse bei 36% (3). Die restliche Ware wird importiert, d.h. es profitieren hauptsächlich Importeure von einer höheren Nachfrage. Zu dem Ziel einer stärker regionalen und saisonalen Ernährung würde die Senkung der Umsatzsteuer nichts beitragen. Insofern erzielt die Maßnahme auch keine ökologische Lenkungswirkung.
3. Es gibt sehr unterschiedliche Motivationen für die Art der Ernährung
Laut Wissenschaftlichem Beirat für Agrar- und Ernährungspolitik (WBAE) ernähren sich aktuell 4,3% der deutschen Bevölkerung vegan. Etwa 20% der Bevölkerung sieht die Fleischproduktion kritisch (4). Die Motivation zur Änderung des eigenen Ernährungsstils ist sehr unterschiedlich, hier spielen die Ziele Gesundheit, Tierwohl, Umwelt, Klima und Soziales eine Rolle, was jedoch nicht immer automatisch zu einer pflanzenbasierten Ernährung führt. Daher muss eine Ernährungspolitik viele verschiedene Faktoren berücksichtigen.
4. Die unterstellte Gesundheits- und Klimawirkung im Antrag A10 ist spekulativ
Es ist unbestritten, dass von einer stärker pflanzenbasierten Ernährungsweise positive Klima- und Gesundheitseffekte ausgehen. Wenn es jedoch keinen Mengeneffekt gibt, sind allenfalls geringfügige Klima- und Gesundheitseffekte zu erwarten. Um diese Ziele zu erreichen, sind andere ernährungspolitische Instrumente notwendig.
5. Kleine Direktvermarkter (= zum Großteil Ökobetriebe) werden benachteiligt
Eine Umsatzsteuersenkung bedeutet für kleine Direktvermarkter eine wirtschaftliche Härte. Pauschalierende Betriebe mit Direktvermarktung können sich die Mindereinnahmen einer abgesenkten Umsatzsteuer nicht vom Staat zurückholen. Viele der kleinen Direktvermarkter sind Öko-Betriebe, d.h. Betriebe, die wir Grüne nicht benachteiligen wollen. Auf einer Expertenanhörung der LAG Landwirtschaft im Juli 2023 wurde herausgearbeitet, dass es unmöglich ist, für solche Betriebe eine Erstattung der Mindereinnahmen zu organisieren. Es wurden verschiedene Optionen diskutiert, die aber alle aus unterschiedlichen Gründen nicht durchführbar sind. Der aktuelle Vorschlag der Antragsteller:innen von A10, kleine Direktvermarkter zu entschädigen, ist sehr vage. Die Antragsteller:innen sprechen von einer “Fördermaßnahme” und behaupten diese (von anderen?) erarbeiten zu lassen. Es bleibt dabei unklar, wie eine solche Entschädigung gestaltet werden soll. Die bisher in LAG-Sitzungen diskutierten Lösungen z.B. in Form einer Prämie sind alle ein bürokratischer Albtraum. Man bestraft die besonders kleinen Betriebe mit Direktvermarktung durch zusätzliche Bürokratie.
Der Wissenschaftliche Beirat hat seit 2010 in verschiedenen Gutachten empfohlen (5,6), aus gekoppelten Prämien und Direktzahlungen auszusteigen, auch andere Wissenschaftler:innen empfehlen einen Ausstieg aus pauschalen Prämienzahlungen. Der Vorschlag einer Prämie für kleine Direktvermarkter ist also das exakte Gegenteil, was die Wissenschaft empfiehlt. Der Antrag schlägt eine Maßnahme vor, ohne diese auch nur ansatzweise durchdacht zu haben.
6. Dieser Eingriff in die Steuerpolitik geht am eigentlichen Ziel einer größeren Umsatzsteuerreform vorbei
Der Vorschlag einer Umsatzsteuersenkung steht im Widerspruch zu einer großen Reform der Umsatzsteuer, wie er seit vielen Jahren gefordert wird. Es gibt zahlreiche inkonsistente Besteuerungen bei der Umsatzsteuer, die abgeschafft gehören, wie z.B. die Besteuerung von Pflanzenmilch als Getränk mit 19%. Wir Grüne stehen für eine ökologische Steuerreform, die eine konsequente Besteuerung fossiler Inputs beinhaltet. Das Ziel der Verteuerung von fossilen Inputs ist im Sinne der allgemeinen Umwelt- und Klimapolitik zentral und erfordert ökonomisch ausgleichende Maßnahmen. Für eine solche ökologische Steuerreform fehlen uns die 2 Mrd. EUR, die der Antrag A10 kosten würde.
7. Im Bund fehlen finanzielle Mittel für eine ambitionierte grüne Agrarpolitik
Eine ambitionierte grüne Agrarpolitik erfordert jährlich mehrere Milliarden:
Biologischer Klimaschutz und Wiedervernässung von Mooren: 1-2 Mrd. EUR/Jahr (7). Bisher kommen wir bei der Moorvernässung nicht mal auf 200 Mio. EUR jährlich.
Die Umsetzung der Fauna Flora Habitat-Richtlinie (FFH) erfordert mindestens 1,4 Mrd. EUR/Jahr (8).
Förderung der Agrar-Biodiversität über die Agrarumwelt- und Klimamaßnahmen und Öko-Regelungen der GAP betragen aktuell 1,8 Mrd. EUR/Jahr, auch hierfür fehlen teilweise die Mittel für die Kofinanzierung. Die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz (GAK) wurde dieses Jahr um 66 Mio. EUR/Jahr gekürzt, obwohl hier wichtige Programme finanziert werden (9).
Für den Umbau der Tierhaltung in Richtung Tierwohl könnte 4-5 Mrd. EUR/Jahr ausgegeben werden für Investitionen für den Stallumbau (10). Die Borchert-Kommission hat vorgeschlagen, 1,3 Mrd. EUR/Jahr für einen ersten Schritt zu investieren. Dieser Betrag war zu Beginn der Ampel umstritten. Inzwischen zeichnet sich eine Lösung in Form des Tierwohl-Cents von Cem Özdemirs ab. Es ist schon jetzt absehbar, dass die veranschlagten Mittel von 1 Mrd. EUR/Jahr dafür nicht ausreichen werden.
Nicht für alle genannten Ziele könnten GAP(EU)-Mittel verwendet werden, daher ergibt sich aus dieser Aufzählung ein weiterer Finanzierungsbedarf aus Bundes- und Landeshaushalten.
Quellen
(1) Der Deutsche Bundestag (2022): Neue Handlungsspielräume bei Umsatzsteuersätzen, Bundestagsdrucksache 20/2046 vom 31.05.2022, url: https://tinyurl.com/3m6hn7wv
(2) Femenia, F. (2019): A Meta-Analysis of the Price and Income Elasticities of Food Demand, German Journal for Agricultural Economics 68 (2): 77-98
(3) BLE (2024): Der Selbstversorgungsgrad in Deutschland (Pressemitteilung vom 24.02.2024), Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), Bonn, https://bit.ly/3xu5Y5w
(4) WBAE (2020): Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten, Gutachten des Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE), Berlin, url: https://bit.ly/3uA4ndz
(5) WBA (2010): EU-Agrarpolitik nach 2013 - Plädoyer für eine neue Politik für Ernährung, Landwirtschaft und ländliche Räume, Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBA), Berlin.
(6) WBAE (2018): Für eine gemeinwohlorientierte Gemeinsame Agrarpolitik der EU nach 2020: Grundsatzfragen und Empfehlungen, Gutachten des Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE), Berlin. https://bit.ly/4bKtLOk
(7) WBAE (2016): Klimaschutz in der Landwirtschaft- und Forstwirtschaft sowie den nachgelagerten Bereichen Ernährung und Holzverwertung: Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrar- und Ernährungspolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE), Berlin. url: https://bit.ly/35UWFxU
(8) Pabst H., Achtermann, B., Langendorf, U., Horlitz, T., Schramek, J. (2018): Biodiversitätsförderung im ELER (ELERBiodiv). Endbericht des gleichnamigen Forschungs- und Entwicklungsvorhabens (FKZ 3515 880 300), IFLS Frankfurt. url: http://tinyurl.com/nn4845dj
(9) NABU (2024): Haushalt 2024 – Harte Einschnitte für den Naturschutz, Blogbeitrag von Stephan Piskol (NABU), Berlin. Url: https://blogs.nabu.de/naturschaetze-retten/hh24/
(10) WBAE (2015): Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung – Gutachten des Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE), Berlin, url: http://tinyurl.com/mvv4x9tz
Unterstützer*innen
- Matthias Sünnemann (KV Stormarn)
- Stephan Wiese (KV Lübeck)
- Mathias Schmitz (KV Pinneberg)
- Simon Tewes (KV Rendsburg-Eckernförde)
- Stefanie Pöpken (KV Plön)
- Manfred Wolfgang Ebken (KV Ostholstein)
- Lukas Unger (KV Pinneberg)
- Sascha Peukert (KV Lübeck)
- Carsten Mathäs (KV Flensburg)
- Sophia Marie Pott (KV Lübeck)
- Patrick Pacula-Glöer (KV Lübeck)
- Stephan Wisotzki (KV Lübeck)
- Sina Clorius (KV Schleswig-Flensburg)
- Marcus Jurkat (KV Lübeck)
- Jan-Hendrik Oldag (KV Kiel)
- Christopher Mund (KV Lübeck)
- Martin Merlitz (KV Herzogtum Lauenburg)
- Markus Winkler (KV Schleswig-Flensburg)
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